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Tantra

Tantra (Sk. „gewebte Fäden auf einem Webstuhl“)

Als spiritueller Begriff taucht Tantra im 3. Jh. auf und wird für hinduist., jainistische und buddhist. Texte gebraucht (→ tibetischer Buddhismus). Den Gelehrten ist bisher noch nicht klar, ob das Tantra im Buddhismus oder Hinduismus entstand, doch weist die Ablehnung des Kastensystems und die Verehrung des Weiblichen auf buddhist. Ursprünge hin. Im Laufe der Zeit haben sich die Begriffe und Praktiken auseinander entwickelt. Außerdem fehlt dem buddhist. Tantra das typische → Opferritual des Hinduismus.
Im weitesten Sinne werden im Hinduismus alle religiösen Lehren und Riten als „tantrisch“ bezeichnet, die nicht dem Veda (→ Brahmanismus) und den → Upanischaden zugehören. Die Zahl der Werke der tantrischen Literatur ist außerordentlich groß. Im Gegensatz zum Veda bilden die Tantras in ihrer Gesamtheit keinen einheitlichen Charakter, sondern sind geprägt von den unterschiedlichen Richtungen und Sekten. Neben den zahlreichen Tantras der Verehrer der Göttin Durga bzw. ihrer verschiedenen Manifestationen gibt es Tantras der Shaktas (Verehrer der → Shakti), Vaishnavas (Verehrer Vishnus, → Bhakti-Yoga), der Shaivas (Verehrer → Shivas) usw. Die Verehrung des weiblichen Prinzips, der → Shakti, meistens dargestellt in ihren vielfältigen Manifestationen verschiedener Göttinnen wie Lakshmi, Parvati oder → Kali, spielt im Hinduismus insgesamt eine bedeutende Rolle, doch im Tantrismus steht die Göttin als Mahadevi bzw. Mahashakti sogar noch höher als Shiva. Das „Nigama-kalpataru“ und das „Picchila-tantra“ erklären, dass von allen → Mantras die der Kali die größten seien. Die Figur der → Kali stellt Tod, Zerstörung, Furcht, Terror und Zeit dar – den gesamten Aspekt der Wirklichkeit. Durch die Konfrontation mit diesem Aspekt gewinnt der Verehrer seine endgültige Befreiung.
Wegen ihres erotischen Symbolismus und einiger ihrer Praktiken wurde die tantrische Philosophie sehr häufig missverstanden bzw. auf die rituellen → Sexualpraktiken reduziert; das kommt daher, dass einige Gelehrte technische Begriffe in tantrischen Texten zu wörtlich genommen haben. Der Gebrauch von esoterischer Terminologie und von Symbolen dient indes eher dazu, Wahrheiten zu lehren, die nur von Eingeweihten verstanden werden können. Aus diesem Grunde wurde eine geheime, dunkle, sogar widersprüchliche Sprache entwickelt (sandhabhasa, „Absichtssprache“), in der Bewusstseinszustände in erotischen Begriffen ausgedrückt wurden. Das Vokabular der Mythologie und Kosmologie ist durchtränkt mit hatha-yogischen oder sexuellen Bedeutungen mit dem Ziel, den Yogi in paradoxe Situationen zu versetzen, die für sein Training notwendig sind.
Man kann zwei Formen des Tantra unterscheiden: die wörtliche (mukhya) und die metaphorische (gauna). Die erstere wird vamacara oder „linkshändig“ genannt (hier werden Frauen ins Ritual einbezogen), die zweite, die asketische Richtung, dakshinacara, „rechtshändig“. Beim Vamacara-Tantra werden die in den meisten Yoga-Richtungen fünf „verbotenen“ oder verpönten Dinge (pancamkaras, die „fünf M“) wörtlich genommen, während beim Dakshinacara die eigentlichen symbolischen Bedeutungen gemeint sind (die erste Bedeutung in Klammern): madya („Wein“), „berauschende, wonnevolle Gotteserkenntnis“; mamsa („Fleisch“), „die Widmung aller Dinge an Mam, Mich“; matsya („Fisch“), „das Gefühl des ‚Mein’, mat-sya“; mudra („Aphrodisiakum“), „Aufgeben der Übel“; maithuna („geschlechtliche Vereinigung“), „Vereinigung der → Kundalini-Shakti mit dem höchsten Prinzip Shiva-Shakti im Sahasrara-Chakra“ (→ Chakras).
Auch wenn das Ziel der tantrischen und nichttantrischen Kulte das gleiche ist – die Erkenntnis der Identität der absoluten und phänomenalen Existenz –, gibt es große Unterschiede in den Methoden, dieses Ziel zu erreichen. Während nichttantrische Lehren einfach ausgedrückt kontemplativ sind, werden im Tantra körperliche und psychische Methoden benutzt, um die Vereinigung der Erscheinungs- mit der absoluten Welt zu erreichen. Auch wenn das Ziel aller Methoden das gleiche ist, hat jeder die Freiheit, den tantrischen Weg in der ihm gemäßen Weise zu gehen.
Das → Sadhana (Übung) des „weißen“ Tantra (des rechtshändigen Wegs) berücksichtigt die psychischen Eigenheiten des Schülers. Die wichtigsten Methoden sind → mantra, → mudra und → yantra, die alle dazu dienen, die zentrale Übung der meditativen Visualisierung zu fördern. Das Sadhana des „roten“ Tantra (des linkshändigen Wegs) besteht teilweise in der ritualisierten Verwendung der sexuellen Kräfte, die bei der Vereinigung von Mann und Frau mittels Mantra, Atemtechnik und → Visualisation zur Umwandlung der sexuellen Energie darauf abzielt, die innerseelische Entwicklung voranzubringen. Die Vereinigung von Shiva und Shakti in der konkreten Form von Mann und Frau entspricht der mythischen Auffassung der Schöpfung und der Zurücknahme der Energien des Lebens in die höhere Einheit.
Im Allgemeinen stellen für den Tantriker die sinnliche und übersinnliche Wirklichkeit keine Gegensätze dar. Befreiung ist in diesem Sinne keine Flucht vor den Anforderungen des Lebens, sondern besteht in der bewussten Umwandlung der Elemente, die unsere Welt und Existenz ausmachen. Die tantrische Weltanschauung ist deshalb nicht asketisch, aber auch nicht spekulativ, weil sie hauptsächlich vom Experiment ausgeht. So haben die Tantriker nicht nur die psychischen Zentren im Menschen, die → Chakras, in ihre Praxis einbezogen und verschiedene → Yoga-Techniken entwickelt, sondern auch naturwissenschaftliche Entwicklungen – wie Medizin (Ayurveda), Alchemie und Astrologie – befördert.

„Die grundlegenden Lehrinhalte des Tantra können in aufsteigender oder absteigender Bewegung erklärt und verstanden werden. Vom Gipfel aus kann man auf einer kosmischen Ebene die Betrachtung beginnen, die von den Maximen des Tantra über die letzte Wirklichkeit handelt, und dann hernieder steigen zu seiner Vorstellung der Schöpfung und der Bausteine der sichtbaren Welt, und schließlich beim Verstehen des menschlichen Körpers und seiner Beschaffenheit enden. Umgekehrt können wir mit dem erfahrbaren Selbst beginnen und in Stufen durch Mensch-Welt-Kosmos aufsteigen, gipfelnd im Wesen der letzten Wirklichkeit. Diese Betrachtung zeigt uns die verschiedenen Stufen des tantrischen Denkens, um die sich verschiedene Rituale und Kunstformen gruppieren. Die Tantriker haben eine systematische Methode entwickelt, indem die ‚kosmischen Schnittpunkte’ auf eine relative Ebene übertragen werden, auf der das Individuum dem Numinosen nun begegnen kann. Diese kosmischen Schnittpunkte können entweder durch die Arbeit an sich selbst, mittels des menschlichen Körpers (→ kundalini-yoga), erreicht werden, in der Begehung von Riten und Ritualen, in der Schau von Formen und Figuren wie → Yantras, → Mandalas und Gottheiten (dies sind die wichtigsten Ausdrucksformen der tantrischen Kunst), oder im Laut durch die Wiederholung von Keimsilben (mantras).“ (Khanna, Madhu/Ajit Mookerje 1978)

Die hinduist. und buddhist. Tantra basieren auf dem → Dualismus der Manifestation von Erscheinungsformen des Absoluten oder reinen Bewusstseins (purusha) und der kosmischen Kraft der Natur (prakriti). In der → Samkhya-Philosophie, die zu den sechs Schulen (→ Darshanas) der hinduist. Philosophie gehört und das Tantra maßgeblich beeinflusst hat, ist das Absolute der „Zuschauer“, der den Wandlungen in der Urmaterie der Prakriti zuschaut, deren Struktur sich aus den drei Gunas (Tamas = träge Kraft, Rajas = Bewegungskraft und Sattva = ausgleichende Kraft) bestimmt (→ Trinität).
Purusha und Prakriti sind gleichzeitig die kosmologischen Übersetzungen der Erscheinungsformen des männlichen und weiblichen Prinzips, die sich zwar in ihren Qualitäten unterscheiden, aber untrennbar voneinander sind, die höchste Einheit. Im tibet. Tantra gilt umgekehrt zum hinduist. das männliche Prinzip jedoch als aktiv und das weibliche als passiv. Das Tantra stellt die weibliche Kraft in den Mittelpunkt ihres Weltbilds und ihres Rituals, weil das weibliche Prinzip die eigentlich bewegende Kraft des Bewusstseins ist. Das geht bis zur Auffassung, dass bei der höchsten Vereinigung Shiva-Shakti die Kraft der Shakti die des Shiva transzendiert. Die universale Kraft der Shakti ist die Schöpferin und die Gebärmutter der Zyklen des Kosmos, sie ist die zeugende Kraft der ewigen Wiederholung.
Im Zentrum der tantrischen Lehren steht das nichtdualistische Bewusstsein der Wirklichkeit als unteilbares Ganzes, die höchste Vereinigung. Shakti und Shiva sind immer miteinander vereint, nur auf der Ebene der Relativität können beide als getrennte Qualitäten betrachtet werden. Die direkte Erkenntnis dieser Wirklichkeit ist das Ziel und die Verwirklichung des Einzelnen bzw. seine Erfüllung. Es versteht sich von selbst, dass dieser Weg alle Möglichkeiten ausschöpft, die zur höchsten Symbiose führen. Die sexuellen Übungen und Praktiken nutzen so den Dualismus, um ihn zu überwinden. Dabei gilt es, die Neigungen und Begierden, die den Menschen an die äußere Erscheinungswelt binden, aufzulösen und als Kraft für die Befreiung zu nutzen. „Durch die gleichen Taten, welche die dualistisch gesinnten Wesen binden, kann man auch von den Banden dieser Welt befreit werden. Das Hauptprinzip besteht darin, dass die Handlung von einem Nichtdualismus zwischen ‚Kopf und Herz’ begleitet sein muss.“ („Advayasiddhi“ in: Douglas/Slinger 1985)

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