Brahmanismus
Die fundamentalen Aspekte der brahmanischen Religion des → Hinduismus entstanden im 1. Jahrtausend v.u.Z. aus einer Reihe von priesterlichen Kommentaren zu den „Veden“. Veda bedeutet „Wissen“, ein Begriff, der sich insbesondere auf das höchste heilige Wissen bezieht, das in den vier Sammlungen (Samhitas), die „Veden“ genannt werden, zusammengefasst ist. Die „Veden“ sind Hymnen (mantras, → Mantra), die die Schöpfungsgeschichte, Rituale und Mythen enthalten und bei der Rezitation eine ungewöhnliche Kraft auf die Zuhörer ausüben sollen, was ja auch von der Rezitation des islamischen Qu’ran gesagt wird.
Die „Veden“ sind älter als andere „offenbarte“ Schriften; ihre Offenbarung beruht vermutlich auf dem „mystischen“ Wein der Soma-Pflanze, die von einigen Forschern als psychedelische Pflanze identifiziert wurde. „Soma ist der Herr des Weins der Wonne, des Weins der Unsterblichkeit. Wie Agni findet er sich in den Pflanzen, im Wachstum auf der Erde und in den Wassern. Der Soma-Wein, der beim äußeren Opfer gebraucht wird, ist das Symbol für diesen Wein der Wonne“, erklärt Sri → Aurobindo die Textstelle im „Rigveda“. Nach Einschätzung vieler Gelehrter ist dieser Veda der einzige und wahre Veda. Die drei weiteren Samhitas sind: „Samaveda“, „Yajurveda“ und „Atharvaveda“.
Der Yogi-Gelehrte Sri Aurobindo stellte die Hypothese auf, dass der „Rigveda“ ein beachtliches Dokument ist und die historischen Eleusinischen und orphischen Mysterien (→ Mystik) seine „verblassenden Überbleibsel“ sind, da das spirituelle und psychologische Wissen „verhüllt wurde durch einen Schleier konkreter materieller Formen und Symbole, die dem Profanen den Sinn verdeckten, dem Eingeweihten aber offenbarten“. Später kamen die brahmanas hinzu, ausgefeilte ritualistische Abhandlungen über die Kultformen und Lebensregeln. Wie ihr Name schon sagt, wurden sie von den aryanischen Priestern (→ Brahmanen) entwickelt. Auch die → Upanischaden, die von den Rishis, den visionären Sehern, geschaffen wurden und die das Wissen der Veden neu interpretieren, werden zum Veda gezählt. Der Brahmanismus wurde im Laufe der Zeit zu einem „institutionalisierten → Hinduismus“ mit einer machtvollen Orthodoxie. Dennoch bilden viele seiner Ausprägungen eigenständige spirituelle Wege. Diese werden in den einzelnen Stichworten ausführlich behandelt.
Die brahmanische Religion der aryanischen Priester (→ Asgard) betont die Rolle der Gesellschaft und des Individuums für die Erhaltung der kosmischen Ordnung (rta, unser Begriff → „Ritual“). Diese Ordnung wird gestärkt und erhalten durch genaue Einhaltung der richtigen → Opfer. Später wurde dieses Konzept erweitert, indem die gesamte menschliche Aktivität, die den kosmischen Gesetzen (dharma) folgt, einbezogen wurde. Nach dem „Rigveda“ ist Hitze (tapas) das grundlegende Element der Schöpferkraft. Die ursprünglichen Opferrituale wurden schließlich auch auf den Menschen bezogen, der sich durch Selbstopfer, z.B. Askese (→ Sexualität), über die menschlichen Begrenzungen hinaus entwickeln konnte.
Ein weiteres Konzept des brahmanischen Hinduismus ist die Wiedergeburtslehre (karma-samsara, → Reinkarnation). Danach durchläuft die individuelle Seele vom Anfang der Zeiten immer neue Formen der Existenz. Die Umstände der Wiedergeburt hängen von den Verdiensten aus den Handlungen (→ Karma) des Einzelnen ab, die er im vorhergegangenen Leben erworben hat. Das Ziel ist, die Seele aus der Verhaftung dieser Existenz zu befreien und Segen durch das Wissen und die rituellen Opfer zu erreichen, die in den brahmanas ausgeführt werden (→ Karma).
Während die brahmanische Auslegung der „Veden“ in einem starken Ritualismus besteht, entwickelten die Rishis in den → „Upanischaden“ die → Yoga-Lehre.
„Wenn es auch schwierig ist, in einer einzigen Formulierung alle Bedeutungen zusammenzufassen, die brahman in den vedischen und nachvedischen Texten angenommen hat, so lässt sich doch mit Sicherheit sagen: es war der Ausdruck für die letzte, ungreifbare Realität, der Grund aller kosmischen Manifestationen und aller Erfahrung, und damit die Kraft jeder Schöpfung kosmologischer (Universum) oder auch nur ritueller Art (Opfer).“ (Mircea Eliade 1977, 123)
Aus den brahmanischen Lehren des Opfers und der Weltentsagung hat sich letztlich eine universale Religion entwickelt, die den Zweck des Lebens darin sieht, das einzige, unteilbare Göttliche in der Welt zu manifestieren. Die → Vedanta-Lehren empfehlen dazu die drei Yogas, die auch in der „Bhagavadgita“ genannt werden: den Inana-Yoga als Weg zur Erkenntnis, den → Karma-Yoga als Weg des selbstlosen Handelns und den → Bhakti-Yoga als Weg der Hingabe und Liebe.
Ramanuja (um 1000), der Hauptvertreter eines differenzierteren Monismus, leugnet zwar nicht, dass man „durch die Kraft der yogischen Erkenntnis … alles, was sich in den drei Welten zuträgt“, wissen und sogar zur direkten Intuition Brahmans gelangen kann, behauptet jedoch, dass die „mystische Konzentration des Geistes“ durch bhakti (Hingabe) unterstützt werden muss, ganz wie in der Bhagavadgita (Mircea Eliade 1977, 153). Auf diese und ähnliche Weise wurde Platz für verehrungswürdige Inkarnationen des Unendlichen in einem abstrakten Lehrgebäude geschaffen. Sie wurden zu einzelnen Aspekten des Einen erklärt. Durch Anrufung der Namen und Identifizierung mit ihrer Kraft konnte die Allgemeinheit an einem geistigen Entwicklungsprozess teilhaben.
Im frühen vedischen → Brahmanismus wurde das letztendlich Göttliche, brahman, ohne Qualitäten (nirguna) gesehen und daher jenseits menschlichen Denkens und war durch keine persönliche Verehrung erreichbar. Die upanischadische Präsentation (→ Upanischaden) von Brahma als mentalem Vorstellungsbild des abstrakten Brahman löste vorübergehend ein Problem der monotheistischen Theorie, doch durch die Kulte um Vishnu (→ Bhakti-Yoga) und → Shiva musste eine neue theologische Anpassung vorgenommen werden.
In der → Trinität Brahma-Shiva-Vishnu als dreier Aspekte des brahman fand man eine Lösung dieses Problems. Brahma bekam eine neue Rolle als ausgleichende Kraft (rajas) zwischen den beiden anderen. Vishnu stellt den Erhalter oder den Erneuerer dar, er steht für das Wohlergehen von Mensch und Tier. → Shiva wird als Zerstörer und Vernichter dargestellt. Die Epen und Puranas dienen als Erzählungen der großen Abenteuer der göttlichen Wesen. Aus der Verehrung dieser Gottheiten entstand der frühe → Bhakti-Hinduismus, und damit war die Grundlage für die theistische Verehrung innerhalb der vedisch-brahmanischen Tradition gelegt.
Auch wenn der theistische Gottesdienst neue Formen wie den Shaivaismus (→ Shiva) und Vaishnaismus (→ Bhakti) annahm, zielen die yogischen Techniken und die Meditation letztlich immer auf das Erreichen des Atman, des höheren Selbst oder des spirituellen Wesens im Menschen, als Mittel zur direkten Erkenntnis und spiritueller Befreiung ab. Auf diese Weise wurden → Meditation (dhyana, → Samkhya), Askese (tapas) und Wissen (vidya) zu den Grundpfeilern des brahmanischen Hinduismus.