Märchen und Mythen
Märchen und Mythen sind durch alle Zeiten der sprachkundigen Menschheit hindurch Informationsträger des Wissens um Zusammenhänge ordnender Strukturen von Lebensbezügen. Mythen bilden seit ihrem Entstehen den Schlüssel zu den geistigen Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Lebens, sie sind Geschichten auf der ewigen Suche nach Wahrheit, nach den Sinnzusammenhängen.
„Mythen sind Geschichten unserer ewigen Suche nach Wahrheit, nach Sinn, nach Bedeutung. Wir alle müssen unsere Geschichte erzählen und unsere Geschichte verstehen. … Mythen sind Schlüssel zu den geistigen Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Lebens.“ (Joseph Campbell 1989, 17)
Geschichten sind wie innere Landkarten von Erfahrungswelten, erzählt von Menschen, die diese Welten des → Bewusstseins „bereist“ haben. Sie erzählen von klugem Verhalten, von spirituellen Erkenntnissen, von anderen Wirklichkeiten. Die Hauptmotive der Mythen ähneln sich in allen Kulturen, so wie die Menschen sich ähneln, auch wenn sie verschiedenartig leben und denken. Es geht immer um die großen geistigen Rätsel: um die Erschaffung der Welt, um Tod und Wiedergeburt, um den Sinn des Lebens oder seine Richtung, um richtiges Handeln, Hingabe und Freude. Nur die Form unterscheidet sich je nach Kultur. Es entstehen auch immer wieder neue Mythen, die der jeweiligen gesellschaftlichen Situation angemessen sind oder die gebraucht werden, um die Alltagswirklichkeit auf kreative Weise zu verarbeiten und neue Lösungsmöglichkeiten zu finden.
Längst haben kluge Märchenforscher diese Informationen gelesen, entschlüsselt und geordnet. Einer der Märchenforscher, der sich besonders dem Zusammenhang von Märchen und → Schamanismus gewidmet hat, ist Heino Gehrts. Er stellt im Zusammenhang mit dem schamanischen Gehalt unserer Märchen die Frage: „Wussten die Erzähler dieser Märchen, dass sie dergleichen erzählen? Oder: „Wie lange wussten sie es?“ Seine Antwort lautet:
„Sie wussten es so lange, als noch ein Bewusstsein lebendig war von dieser zweiten Wirklichkeit außer der leibhaftigen, von jener Märchenwelt, die ein Schamane im Seelenflug verwirklicht. Daraus ergibt sich die klare Folgerung, dass unser Märchen in seinem eigentlichen Sinne verstanden wurde bis zu dem Tag, an dem der letzte Ekstatiker oder Ekstatikerin verbrannt wurde. Das wäre also noch gar nicht so lange her …“ (Heino Gehrts 1992)
Das Besondere an „guten Geschichten“ ist, dass sie die Menschen nicht nur intellektuell mit Information versorgen, sondern vor allem sinnlich und emotional ansprechen. Ein aktuelles Beispiel ist der neuheroische Mythos „Herr der Ringe“. Geschichten – wie wir auch immer sie zuordnen mögen, ob als Mythos, Märchen, Sage, Erzählung oder Legende – werden in die aktuelle Lebenswirklichkeit der Zuhörer eingewoben durch die mündliche Überlieferung. Gute Geschichten sind mehr als unterhaltsam, sie sind Türöffner für eine dem Zuhörenden entsprechende Ebene des „Miterlebens“, das in eigene Erfahrungsräume führen kann. Die Begriffe Fantasie und Imagination treten in den Hintergrund, wenn beim Zuhören die Berührung mit der eigenen Wirklichkeit erfahren wird. Durch Geschichten der Vielfältigkeit der eigenen Wirklichkeit zu begegnen, kann nicht nur gleich der Heldin, dem Held der Erzählung zur Heldenhaftigkeit oder Flugtauglichkeit in „andere Welten“ befähigen.
Die Berührung durch das erzählte Geschehen, nicht die Analyse des Geschehens und auch nicht die Kennzeichnung als Märchen oder Mythos hat die Kraft, dass der oder die Lesende oder Hörende selbst zu einem Teil des sich immer wieder neu spinnenden „fliegenden Teppichs“ einer heilsamen Wirklichkeit wird (Nana Nauwald 2004).