Gnosis, Philosophie und Weltbild
„Die gnostischen Schriften führen den Ursprung aller Dinge auf ein erstes Prinzip zurück, eine reine vollkommene und höchste Macht, die ewig, unendlich und absolut ist“ (Benjamin Walker 1992, 36). Dieses unendliche → Nichtsein, ohne Raum und Zeit, ohne Qualität und Quantität, ist unbegreiflich und unaussprechbar: „Selbst der Begriff des Daseins, wie wir ihn verstehen, hat so wenig mit dem Dasein zu tun, das man ihr [der Gottheit] zuschreiben könnte, dass man mit Recht sagen könnte, die Gottheit existiere nicht. Sie ist Nichts, nicht ein Seiendes“ (Benjamin Walker 1992, 37). Diese Idee stammt vermutlich aus dem indisch-vedischen Weltbild, in dem → Brahman das höchste, absolute Nichts-Seiende ist (→ Brahmanismus).
Die gnostische → Kosmogonie (Lehre von der Entstehung der Welt) versucht nun eine nichtseiende Gottheit und einen nichtseienden Kosmos mit dem Erscheinen der Welt in Einklang zu bringen. Es gibt verschiedene Theorien darüber, wie die manifestierte Welt entstand. Eine der gnostischen Erklärungen dafür finden wir später in einer Aussage (hadith) des Propheten Mohammed: „Ich war ein verborgener Schatz und sehnte mich danach, erkannt zu werden; deshalb erschuf ich die Welt, damit ich erkannt werde“. Die scheinbare Trennung oder Dualität ist notwendig, damit sich ein kreativer Prozess entfalten kann – eine weitere gnostische Vorstellung und eine Idee, die wir nicht nur im Islam, sondern auch beim Sufi-Mystiker → Ibn Arabi wieder finden.
„Die vorherrschende Theorie lautet, dass die Gottheit unendliches und ewiges Licht und unendliche und ewige Liebe ist. Die Liebe verlangt nach Ausdruck und einem Objekt, das sie lieben kann. Deshalb schuf die Gottheit die Bedingungen für das Erscheinen anderer Wesen, die seine Liebe empfangen und an seiner Wonne teilhaben könnten“ (Benjamin Walker 1992, 38).
Nachdem nun der Einheit die Schöpfung entströmt ist, manifestiert sich die Gottheit als ursprüngliche → Trinität, die im christl. Glauben als Vater, Sohn und Hl. Geist dargestellt wird. Im „Apokryphon Johannis“, das in Nag Hammadi gefunden wurde, heißt es jedoch: „Ich bin der Vater, ich bin die Mutter, ich bin der Sohn.“ Dem christl. Heiligen Geist wird von vielen Gnostikern oft eine weibliche Eigenschaft zugeschrieben. Das erklärt sich sehr leicht daraus, dass in griech. Texten „Hl. Geist“ als Neutrum, pneuma, übersetzt wird, während hebr. Texte von ruach, einem weiblichen Wort, sprechen.
„Zum ewigen mystischen Schweigen und dem Heiligen Geist setzen gewisse Gnostiker noch eine dritte Charakterisierung der göttlichen Mutter: als Weisheit. Mit dem griech. femininen Wort für ‚Weisheit’, sophia, wird ein hebr. feminines Wort hokhmah, übersetzt … Weisheit trägt daher in den gnostischen Quellen verschiedene Konnotationen. Nicht nur, dass sie der ‚erste universale Schöpfer’ ist, der alle Geschöpfe hervorbringt, sie erleuchtet auch die Menschen und macht sie weise.“ (Elaine Pagels 1987, 99 f.)
In der → Kabbala finden wir denn auch Weisheit und Bewusstsein in der obersten Dreiheit des → Lebensbaumes (→ Sefiroth) – vermutlich eine Reminiszenz an die drei Welten der nordeurop. (→ Germanen) und → schamanischen Vorstellungen.
Viele gnostische Schulen stellen sich die Manifestation des Urprinzips (ain soph der → Kabbalisten) als Emanation (Ausstrahlung) aus sich heraus vor, der dann die Vervielfältigung in unterschiedliche Qualitäten des Seins folgt, welche eine absteigende Hierarchie geistiger Wesen bildet (→ Engel). Die gnostische Kosmogonie spricht hier von zwei unterschiedlichen und unversöhnlichen Welten. Die eine ist die ewige Welt von Gottvater und der himmlischen Hierarchie, die Welt der Fülle (pleroma), der Wirklichkeit und Vollkommenheit, die andere ist die Erscheinungswelt, die Welt der Täuschung und Unvollkommenheit, eine Welt des Mangels. Zwischen diesen beiden Welten, manchmal auch zwischen der geistigen und materiellen Welt, gibt es eine Zwischenregion (Grenze, horos), die wie auf einer Leinwand die weltlichen Dinge spiegelt – der große Schleier (den die Inder als → Maya bezeichnen), der die geheimen Strukturen aller Dinge in sich trägt (die „Welt der Gestaltung“ im → Sufismus, griech.-gnostisch paradeigmata).
Fundamental für viele gnostische Richtungen war der Glaube an einen transzendenten Gott, der barmherzig und gut ist. Er ist der transzendente Gott, der in die obere Lichtwelt gehört, doch völlig entfernt von unserem Kosmos ist oder sich daraus zurückgezogen hat. Mit ihm verbunden ist sein Sohn, logos, der auch mit dem kosmischen Christus gleichgesetzt wird. Der Kosmos selbst ist an sich schlecht und nicht das Werk dieses Lichtgottes, sondern wird regiert von einer gegnerischen Gottheit, die als → Demiurg oder Schöpfer bezeichnet wird, Satanel, der ursprünglich einen bevorzugten Platz einnahm, aber durch Gebrauch seines freien Willens hochmütig wurde und in Ungnade fiel. Daher der Name → Satan. Diesem Satan werden schöpferische Kräfte zugeschrieben, man stellt ihn manchmal auch als „Widersacher“ dar.
Eine weitere dualistische Vorstellung, die aus dem vorchristl. persischen Zoroastrismus kommt, wo die Kräfte des „guten Gottes“ Ahura Mazda mit der Armee der bösen ahrimanischen Kräfte zu kämpfen haben. Hinzu kommt ein regelrechtes Pantheon von himmlischen Wesen, den guten Engeln, die für die obere Welt des Lichtes arbeiten, und den bösen Archoniten, die für die niedere Welt, in der wir leben, wirken (→ Engel). Der Mensch ist in diese ursprüngliche Dualität eingebunden. Da er aus der Welt des Lichtes fiel, ist er nun gefangen von der Welt der Materie und dem Demiurgen ausgeliefert. In einem Nag-Hammadi-Dokument (in Nag Hammadi wurden viele apokryphe Schriften in einem Tonkrug gefunden) wird die Welt als Illusion (phantasia) bezeichnet, und die Verstrickung in die Welt soll zum spirituellen Tod führen. Hin und wieder vernehmen Menschen Hinweise oder Stimmen, die sie zur Wiedererinnerung (anamnesis) führen. Wenn der Mensch sich an seinen geistigen Ursprung erinnert, kann er einen Sinneswandel (metanoia) erfahren und nun an seiner Rückkehr zum Licht arbeiten. In einer anderen Version hat die Befreiung aus der materiellen Welt nichts mit Moral, guten Taten oder Glauben zu tun, sondern hängt allein vom transzendenten Wissen (Gnosis) über Gottes erlösendes Wirken durch den Logos ab. Die Welt und ihre Gesetze – religiöse, moralische oder soziale – haben für den großen Plan keine Bedeutung.
Manchen Gnostikern zufolge sind Kosmos und Menschheit als gescheitert zu betrachten. Die Welt des Demiurgen ist „nachgemacht“, denn nach einer Version formte der Demiurg (in diesem Falle Satan) aus der verzerrten Abspiegelung am himmlischen Schleier ein physisches Bild (plasma) des Menschen und schenkte ihm durch Anhauchung das Leben. Da dem Menschen zum Leben etwas fehlte, lockte Satan aus den himmlischen Reichen einen Lichtfunken in seine seelenlose Welt und sperrte sie in den Körper Adams. Nach gnostischer Auffassung kann die Seele jedoch, weil sie aus der geistigen Sphäre stammt, nicht ohne weiteres in einen physischen Körper eingesperrt werden. Die Seele durchläuft deshalb die Himmelssphären, bevor sie im Körper geboren wird. Bei der Geburt verliert sie die Erinnerung an die himmlische Heimat. Der Mensch ist verwirrt und sinkt in Schlaf. Die Archonten wiederum, die über die Welt wachen, haben kein Interesse daran, dass der Mensch aufwacht und sich aus seinem Körper befreit. Sie bedienen sich deshalb jeder List, damit er betäubt und berauscht bleibt und weiterschläft.
„Die vielleicht erstaunlichste und für viele auch anstößigste Aussage der Gnostiker über den Demiurgen ist die Gleichsetzung mit Jahwe, dem Gott des Alten Testaments. Diese hebr. Gottheit ist ihnen zufolge von Gottvater zu unterscheiden. Jahwe ist dem höchsten Wesen durchaus feindlich gesinnt. Die gnostischen Lehrer wurden nicht müde, Jahwe, Moses und das Gesetz, die Propheten und überhaupt das ganze Alte Testament, die Thora, im wahrsten Sinne des Wortes zu verteufeln. Für manche Kritiker ist der Gnostizismus daher ein metaphysischer Antisemitismus. … [Denn im] Gegensatz zum himmlischen Vater, der ein liebender Gott ist, ist Jahwe, wie er doch selbst sagt, eifersüchtig, zornig und rachsüchtig und fordert Vergeltung bis ins dritte und vierte Glied.“ (Benjamin Walker 1992, 56)
Alles Weitere wissen wir aus der Bibel.
Einflussreiche Gnostiker waren → Valentinus (110-175 n.u.Z.) und Simon Magus (15 v. – 53 n.u.Z.) und → Mani (215-276). Viele Gnostiker, von denen einige ihrer Schriften schon am Anfang unserer Zeitrechnung, zumindest kurz nach dem Tode Jesu in Umlauf kamen, bezweifeln nicht nur die Jungfrauengeburt Jesu, sondern auch seine Kreuzigung oder seinen Tod am Kreuz. In der „Petrusapokalypse“, einem Nag-Hammadi-Text, sieht Petrus, wie jemand, der Jesus zu sein scheint, ergriffen und ans Kreuz geheftet wird, während gleichzeitig eine andere Gestalt über dem Kreuz fröhlich lacht. Auf seine Frage erhält er die Auskunft, dass der Glückliche der lebendige Christus und der Gekreuzigte eine Ersatzperson sei. Eine Spielart dieser gnostischen Vision brachte der griech. Schriftsteller Nikos Kasantsakis vor gut 50 Jahren in seinem Roman „Die letzte Versuchung“ in eine dramatische Form, und es verwundert nicht, wenn viele Christen gegen die Verfilmung heftig protestierten, rüttelt diese Darstellung doch an den Grundfesten des Christentums. Hier kann man gut nachvollziehen, warum die gnostischen Strömungen von der Kirche stets als ketzerisch verfolgt wurden (→ Katharer).
Die Auswirkungen des gnostischen Denkens sind im europ. Geistesleben heute noch so umfassend und gegenwärtig, dass ihr gesamtes Ausmaß nur schwer einzuschätzen ist. Insbesondere in der Renaissance (15. Jh.) wurden viele gnostische und kabbalistische Texte übersetzt und neu interpretiert. Auch die exoterische europ. kulturelle Entwicklung wurde in vieler Hinsicht von gnostischen Ideen und Philosophien getragen, man denke hier nur an Blake, Milton, Novalis, Balzac, Tolstoi und andere. Sogar die modernen sozialen und philosophischen Schulen tragen gnostisches Gedankengut in sich, z.B. Kommunismus, Nihilismus und die Psychoanalyse. Ob nun die Einflüsse direkt oder indirekt ihren Weg dahin nahmen, spielt dabei eigentlich keine Rolle.
Die modernen Geheimgesellschaften, Sekten, Orden oder Gemeinschaften haben, nicht anders als die mittelalterlichen Zünfte, ihre „Mysterien“, die Rudimente eindeutig gnostischer Lehren sind. Sie verfügen meistens über einen Kult, Rituale, Symbole und eine gemeinsame esoterische Sprache, die von den Erleuchteten zur Vorbereitung für eine innere seelische Entwicklung verwendet werden. Bestimmte Meditationspraktiken, meditative Musik (→ Meditation), → Rituale, → Tanz, → Trance, Ekstasetechniken (→ Ekstase) u.a. helfen, die innere Schau zu fördern. Manche Gruppen haben Aufnahmeriten, andere nicht.
Heute aktive Gruppierungen mit gnostisch-synkretistischen Ideen kann man im Wesentlichen wie bei den ursprünglichen Gnostikern in zwei Gruppen fassen: in eine asketische und eine libertäre Richtung. Zur asketischen Richtung gehören die → Theosophische Gesellschaft, die → Channeling-Bewegung, die → Rosenkreuzer-Gemeinschaft, Lectorium Rosicrucianum , AMORC u.a., zur libertären Richtung kann man den O.T.O (Orientalischer Tempelorden und Thelema-Orden, → Magie), die Psychosophische Gesellschaft, die Gnostische Tempelbruderschaft und viele andere zählen.