Labyrinth
Das Wort ist wahrscheinlich vom griech. Wort labrys abgeleitet. Es bezog sich auf die Doppelaxt, einem hl. Symbol der Minoer (ca. 1300 v.u.Z.), benannt nach dem sagenhaften König Minos von Kreta. Labyrinth bedeutete vermutlich „Haus der Doppelaxt“, womit der Palast von Knossos gemeint gewesen sein könnte. Labyrinthe wurden in allen Teilen der Welt gefunden und sind vermutlich noch wesentlich älter. Doch das so genannte kretische Labyrinth ist das klassische.
In einem Labyrinth gibt es nur einen Weg, der vergleichbar einer Spirale nach mehreren Umwindungen unweigerlich zum Zentrum und von dort aus wieder nach außen führt. Es ist kein Faden nötig, um wieder herauszufinden. In einem Labyrinthtyp, der später entstand, dem Irrgarten, muss der Weg zum Zentrum durch viele Abzweigungen und Kreuzwege hindurch gefunden werden. Auf den ersten Blick gleicht das klassische Labyrinth dem Irrgarten, doch beide setzen Besucher ganz gegensätzlichen Erfahrungen aus.
Der Gang durch ein Labyrinth stellt symbolisch – oder bei einer rituellen Begehung auch tatsächlich – einen Weg zum Zentrum (→ Weltzentrum) des → Selbst dar, eine Reise in die Welt des → Bewusstseins. In modernen Worten verbindet dieser Weg den analytischen und rationalen Modus der linken Gehirnhälfte mit dem intuitiven und emotionalen Bereich der rechten Gehirnhälfte. Im klassischen Labyrinth kann der Mensch sich auf die innere Erfahrung konzentrieren.
Aus einem → Kreuz, das für das Zentrum der Welt steht, entwickelt sich durch Markierung gedachter Endpunkte ein Quadrat. Winkel werden eingefügt. Von ihren oberen Enden beginnt das Hin und Her des Linientanzes, und auf dem Weg zum Ziel wird sieben Mal die Mitte umkreist. Einige Forscher sehen darin die Bahnen der sieben damals bekannten Gestirne. Zu ihnen rechneten die Menschen die beiden großen Lichter Sonne und Mond. Im Zentrum steht die Erde, umkreist von Mond, Venus, Mars, Sonne, Merkur, Jupiter und Saturn.
Das so genannte kretische Labyrinth stammt aus einer Zeit, als der Mensch noch keine Schrift kannte. Sein Ursprung liegt viele Jahrtausende zurück. Im Süden der Alpen, in Val Camonica, lebte einst das Volk der Camuni. In Hunderttausenden von Felszeichnungen hielten die damaligen Künstler ihre Lebenswelt fest. Zu den eindrucksvollsten Abbildungen gehören die eingeritzten Labyrinthe, die dem kretischen Typus entsprechen. Doch sie sind viel älter als die griech. Münzen. Einmal scheint das Labyrinth Tänzer in die Kreise zu ziehen. Dann wieder stehen große Vögel mit → Hörnern und Phallus unmittelbar nebeneinander. In der Nachbarschlucht deutet eine Szene auf eine → Initiationsstätte hin, einen Ort der Selbsterfahrung und Begegnung mit der gut gehüteten Tradition der Stammesgesellschaft. Auch dort am Rande ein Vogel, das typische Symbol des → Schamanen. Direkt daneben finden sich mehrere Figuren; vielleicht sind es Jugendliche vor einer Einweihungszeremonie. Und am Eingang der Kulthöhle wartet der Schamane.
Für die Inder verkörperte das Labyrinth die Gebärmutter und seine Ringe den Weg des Ungeborenen durch sieben Räume ins Leben. Auf allen Kontinenten haben Labyrinthe eine ähnliche Bedeutung. Doch aus welchem Vorbild entwickelte sich die Form? In der Natur kommt sie so nämlich nicht vor. Plausibel erscheint eine Kombination aus Mäandern (Schleifen) und Spiralen, den beiden Grundmustern für Bewegung. Anders als das Labyrinth dreht sich die Spirale, die von Anbeginn eines der wichtigsten Zeichen war, direkt zur Mitte hin.
Oft werden die Schicksalswege der Menschen wiederum mit dem Bild der Schlange assoziiert (→ Ouroboros, Midgardschlange, → Germanen). Die Ureinwohner von Australien kennen eine Legende, in der sich ein Mäander als auswegloser Irrgarten erweist. Zwei inzestuöse Schwestern werden von ihrem Clan verstoßen und von der hl. Schlange aufgefressen. Wieder ausgespien, irren sie in den endlosen Serpentinen umher, die der Körper des Kriechtieres im heißen Sand hinterlassen hat.