Meister, unsichtbare
Die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, Helena → Blavatsky (1831-1891),und andere Denker des 19. Jh. infizierten die zeitgenössische spirituelle Bewegung mit der Behauptung, die Menschheit werde durch eine geistige Hierarchie geführt, die unsere Geschicke leitet (→ Theosophie). Diese Idee übernahmen sie wahrscheinlich aus den Schriften des → Dionysios Areopagita und den indischen Vorstellungen über die Verkörperung göttlicher Wesen, der → Avatare. Selbstverständlich gibt es keine stichhaltigen Belege für eine solche geistige Hierarchie. Möglicherweise ist diese Idee eine Übertragung der Darwinschen Evolutionslehre auf eine spirituelle Ebene.
Eine brauchbarere Hypothese von einer geistigen Führung der Menschheit, die mehr mit René Guénons Ausführungen konform geht (→ heilige Orte, heilige Berge, Heiliges Land), wurde von anderen bedeutenden Denkern verfolgt. G.I. → Gurdjieff (1866-1949) verbrachte nach eigenen Angaben viele Jahre damit, nach einer Bruderschaft in Zentralasien zu suchen, die eine alte Lehre bewahrt haben sollte. Er erwähnt eine Sarman-Bruderschaft, die als „Hüter der Tradition“ seit über 4 000 Jahren gewirkt habe. Der Begriff sarman, manchmal sarmoun, heißt übersetzt „Bienen“ – was bedeuten könnte, dass die Mitglieder dieser fiktiven Bruderschaft ihr Wissen – den Honig – wie Bienen aus vielen Blüten sammelten. Einiges deutet daraufhin, dass Gurdjieff vielmehr die Fähigkeit des „Suchers nach der Wahrheit“ meinte, das Wesentliche aus allen Traditionen zu lernen.
Ernest Scott schildert in seinem Buch „Die Geheimnisträger“ die historischen Eingeweihten und Gruppen und ihre Querverbindungen, die möglicherweise die These von geheimen Meistern stützen könnten. Die „Meister des Himalaya“, die Frau Blavatsky anführt, hält Scott für die „Meister der Weisheit“, die Hodschagan (→ Sufismus, Sufi-Orden). „Während die theosophischen Meister etwas unfassbar sind, gibt es tatsächliche und körperliche Kenntnisse über die Hodschagan, die im 14. Jh. im Hindukusch, den Ausläufern des Himalaya im heutigen Usbekistan, agierten“, meint Scott (1989).
John G. → Bennett arbeitete in seinem Buch „Die Meister der Weisheit“ ihre Geschichte heraus. Der geistige Einfluss erstaunlicher Menschen während der Mongolenzeit ist ein Beispiel dafür, wie intelligente und bewusste Gruppen und Menschen Einfluss auf die Geschichte nehmen können, ohne selbst direkt Politik zu machen. Bennett war sich jedoch im Klaren darüber, dass letztlich Menschen Geschichte machen und nicht abstrakte unsichtbare Kräfte oder „Meister im Zentrum der Welt“. Die Vorstellung von Meistern der Weisheit „begründet nicht die Meinung, dass es derartige verwandelte Menschen jetzt gebe oder jemals gegeben habe; oder, wenn es sie gibt, dass sie sich mit der menschlichen Krise befassen. Viele Menschen werden dem zustimmen, dass es in der Vergangenheit nicht nur Individuen, sondern Gruppen und Gesellschaften gegeben habe, die verwandelt wurden, allein sie betrachteten sie in einem ‚jenseitigen’ Zusammenhang. Es waren Heilige und Propheten, Visionäre und Reformatoren, deren Arbeit nicht dieser Welt, sondern der nächsten galt, und sie machten keinen Versuch, die Welt zu verändern.“ (John G. Bennett 1993, 20)
Die Welt der Ideen hat jedoch einen Einfluss auf die Geschicke und Vorstellungen der Menschen. „Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, sagte der große Schriftsteller Victor Hugo einmal. Denn es hängt immer von einem Kontakt zu einer tieferen Weisheit ab, wie Menschen sich verhalten und miteinander umgehen. Die menschliche Geschichte bedarf dieser Weisheit.