Alchemie
„Die Alchemisten betrachten aber, überzeugt davon, unter der Mitwirkung Gottes zu arbeiten, ihr Werk als eine Vervollkommnung der Natur, die von Gott geduldet, wenn nicht gar ermutigt wird … Der abendländische Alchemist führt den letzten Teil jenes sehr alten Programms aus, das vom homo faber an den Tagen begonnen wurde, da er es unternahm, eine Natur zu ändern, die er aus verschiedenen Gründen für heilig oder der Heiligung fähig hielt.“ (Mircea Eliade 1980, 207)
Auch wenn die Alchemie als spiritueller Weg heute keine Rolle mehr spielt, kann man ihre Grundideen nicht nur in vielen westlichen spirituellen Wegen finden, sondern auch in manchen Gebieten der Naturwissenschaften, die sich mit geistigen Einsichten und Philosophien überschneiden, sei es nun die Naturheilkunde oder die Quantenphysik. Und der Weg der menschlichen Transformation folgt immer noch verschiedenen Stufen der inneren Umwandlung, die in der Alchemie der Neuzeit formuliert wurden.
Die Alchemie (von arab. al kimiya, die Lehre vom inneren Zusammenhang der Stoffe) geht bis auf die Anfänge der Metallbearbeitung zurück. Wir wissen heute, dass es schon vor 6.000 Jahren in Thailand und China Bronzeherstellung und nicht viel später auch Verfahren zur Eisengewinnung gab. Die Metallbearbeitung war lange Zeit ein Rätsel, besonders weil es sehr schwierig war, das Metall so zu reinigen und zu schmieden, dass es haltbar und formbar wurde.
„Die späte Entdeckung des Eisens, gefolgt von seinem großen industriellen Erfolg, hat die metallurgischen Riten und Symbole stark beeinflusst. Eine ganze Reihe von Tabus oder magischen Verwendungsweisen des Eisens sind auf seinen Sieg und die Tatsache zurückzuführen, dass es Bronze und Kupfer verdrängte, die andere ‚Zeiten’ und andere Mythologien repräsentierten.“ (Mircea Eliade 1980, 29)
Die rituelle Funktion des Schmiedewesens hat einen Doppelcharakter, der sich zwischen der Magie des Feuers und der „Geburtshilfe“ bewegt, dem Hervorbringen des Metalls aus dem Schoß der Mutter Erde.
Der Vater der westlichen Alchemie ist Jabir Ibn el-Hayyan, christianisiert Johannes Geber genannt. Von ihm kommt die Lehre der drei Elemente Salz, Schwefel und Quecksilber, die auf die richtige Weise gemischt werden müssen, um das Gold der Philosophen bzw. den Stein der Weisen zu erzeugen. Salz steht für das weibliche Element, die Erde, Schwefel steht für das männliche Element, das Feuer, Quecksilber = Merkur (Hermes, → Hermetik) für das Element der Vereinigung, die „heilige Hochzeit“, das geistige Element. Merkur hat dabei eine „doppelte“ Natur, d.h. die Dreiheit der Elemente enthält eine Vierheit (→ Kabbala; → Zahlen, Zahlenmystik). Das alchemistische Symbol des Schmelztiegels, crucible, ist das Kreuz (aus der Wurzel cruse), in Verbindung mit der Rose, einem Symbol für das Rad der Zeit (rota). Aus dem Feuer des Rades entstehen neue → Elemente. Daher auch das Symbol „Rosenkreuz“
(→ Rosenkreuzer). Einige Rosen haben die Eigenschaften der Substanz, die der Schöpfer versiegelt hat, den sechszackigen Stern der Magier bzw. das Siegel Salomons. Der Kessel oder das Gefäß
(→ Weltzentrum), in dem die Substanz verwandelt wird, ist ein Symbol für den hl. → Gral, aus der Sprachwurzel kr(a) für „Schöpfung“ („Kreativität“, „Kreatur“, die Insel „Kreta“ usw. haben dieselbe Wurzel).
Das arab. Wort für „Stein“ bedeutet auch „verborgen“. Manchmal wird er auch Asoth genannt, die Quelle des Lebens oder der Jugend, ein Wort, das im → Sufismus al-dhat („dh“ wird als scharfes „s“ gesprochen, daher Asoth) heißt, die innere Wesenheit. Da sie im Arab. feminin ist, bereitete es → Ibn Arabi keine Probleme, von Gott (Allah) als einer weiblichen Schöpferin zu sprechen. Das Wort Allah entstand auch aus Al-Lat, einer weiblichen Göttin der vorislamischen Araber. Nur die Verschleierung des Geheimwissens mit chemischen Metaphern bewahrte die Alchemie davor, als ketzerisch bekämpft zu werden.
Der „Stein“ (→ Artussage) hat drei Komponenten – Körper, Seele und Geist –, die in vier Schritten zu einer Einheit verschmelzen: Sublimation, das Trennen und Reinigen der Substanz, bringt den Geist in den physischen Körper (z.B. wenn nach einer chemischen Sublimation aus dem Dampf, dem gasförmigen Zustand, eine verfeinerte Substanz gewonnen wird); Fermentation bildet das Ferment, den Stoff, der für bestimmte Umwandlungen im Körper notwendig ist (z.B. Enzyme) – alchemistisch die Vereinigung des spirituellen Körpers mit der Seele; Exaltation (Begeisterung), die Fixierung des Steines, hervorgebracht durch die intensive Hitze im „Schmelzkessel“, vereinigt Körper, Seele und Geist; und Multiplikation vereinigt die Seele mit dem Geist, woraus der neue Mensch entsteht (→ Vierter Weg). Vermutlich bezeichnete → Gurdjieff einige seiner Tänze, die auf dem → Enneagramm basieren, als „Multiplikationen“ genau wegen dieser Beziehung. Im → Sufismus werden diese vier Verwandlungen als die jeweilige Stufe von fana und baqa bezeichnet, Tod und Wiedergeburt (→ Ibn Arabi). Der höchste Aspekt der Alchemie ist die Regeneration des Menschen im Geiste Gottes aus den materiellen Elementen seines physischen Körpers. Das ist das Geheimnis des „Steins der Weisen“. Viele der spirituellen Übungen bezwecken die Transformation der Energien, um diese Umwandlung zu bewirken. Eine Variante dieser Umwandlung, die Herstellung des „Elixiers der Unsterblichkeit“ durch die geschlechtliche Vereinigung, lebt im → Tao-Yoga oder indischen → Tantra fort.
Da Heilkunst und die Kunst der inneren Transformation traditionell immer miteinander einhergingen
(→ Schamanismus), ist es nicht verwunderlich, dass sich die Alchemie mit der Herstellung von Heilmitteln beschäftigte. Das „Elixier des Lebens“ ist ein Beispiel dafür. Die von den Alchemisten gewonnenen Heilmittel stellen z.B. eine Verbesserung, eine Transformation der Ursubstanzen dar. Dabei führen die komplizierten Auszugsmethoden der drei philosophischen Prinzipien (Merkur, Sulfur, Salz) aus Pflanzen stufenweise zu den verschiedenen spagyrischen Essenzen (die höherwertig sind als normale Essenzen aus Pflanzen) und Tinkturen hin. Auch die Homöopathie steht in dieser Tradition: Durch einen Verschüttelungsprozess wird die Materie „vergeistigt“ oder „dynamisiert“.
Der Alchemist fördert ganz ähnlich in seinen Retorten ein natürliches Wachstum, treibt es voran, wirkt mit am Werk der Natur. Etwas vom Wesen der Alchemie lebt bis in die heutige Zeit: Der Glaube an die Fähigkeit des Menschen, die Natur umzugestalten – allerdings hat die moderne Pharmakologie weitgehend den „Geist“ der Alchemie verloren.
Das Prinzip der Substanzverwandlung, das jeder alchemistischen Idee zugrunde liegt, ob es nun um die Herstellung von Gold oder Medikamenten geht, ist die Grundlage moderner Chemie und Physik. Einige bedeutende Naturwissenschaftler, deren Entdeckungen die moderne Wissenschaft lange Zeit getragen haben, wie van Helmont (Entdeckung der Gase), Glauber und Newton, waren nachgewiesenermaßen Alchemisten oder standen mit derartigen Geheimgesellschaften in Verbindung. Die Idee der Substanzverwandlung im Sinne einer möglichen seelischen Transformation des Menschen ist heute noch Inhalt mancher moderner spiritueller Lehren; durch entsprechende intensive innere Arbeit kann diesen Lehren zufolge ein „zweiter Körper“ geschaffen werden, eine Konzentration von Energien
(→ Energiekörper).
Der Tiefenpsychologe C.G. Jung stellte denn auch fest, dass das Unbewusste Prozesse durchmacht, die in einer alchemistischen Symbolik zum Ausdruck kommen. Sie haben psychische Resultate zum Ziel, die den Resultaten der Prozesse der → Hermetik entsprechen. Seine Entdeckung bewies: In den Tiefen des Unbewussten vollziehen sich Prozesse, die in erstaunlicher Weise den Etappen eines geistigen Werkes gleichen.
Die alchemistischen Ideen wurden in vielfältiger Weise vom späteren westlichen Okkultismus (→ Magie) aufgenommen und entsprechend der jeweiligen Zeit angepasst.