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Kunst, spirituelle oder „objektive“

In allen spirituellen Traditionen ist Kunst in jeder Form des kreativen menschlichen Ausdrucks eng mit der geistigen Entfaltung des Menschen verbunden. Die ersten Künstler waren vor vielen tausend Jahren die geistigen Mittler zwischen den Wirklichkeiten, die wir heute als Schamanen bezeichnen (→ Schamanismus, → Kunst in schamanischen Gemeinschaften). Sie ritzten ihre Kunstwerke in Felsen und Mammutstoßzähne, malten sie auf Höhlenwände, schnitzten sie in Knochen und Holz und modellierten sie in Ton. Diese erstaunliche Kunstfertigkeit, das Wesentliche zu abstrahieren, wurde bis in die zeitgenössische Kunst hinein kaum übertroffen. Ihre Botschaft erreicht die Menschen heute noch.
Diese Kunstwerke erzählen von Jagdzauber, von Wandlung und Verwandlung, von Geburt und Tod, von der Verbindung mit nichtsichtbaren → Geistern und Welten sowie von veränderten → Bewusstseinszuständen und → Visionen. Die über 20 000 Jahre alte Höhlenkunst z.B. von Lascaux, Les Trois Frères, der Grotte Chauvais, Mammutzahnschnitzereien aus Malta und Sizilien, die weltberühmte „Venus“ von Willendorf oder die 32 000 Jahre alte Frau vom Galgenberg (Österreich) sind bedeutende Beispiele. Inzwischen hat man sogar 400 000 Jahre alte Ritzungen in Thüringen gefunden, die vom frühen Kunstschaffen des Menschen zeugen.
Die Bewegungen vieler Darstellungen von Menschen und Tieren legen die Vermutung nahe, dass sie Ableitungen von → Tänzen sind. Sicherlich haben Bewegung, Rhythmus und Klang den Weg des Menschen schon in den frühen Zeiten der Menschheitsgeschichte begleitet. In allen Kulturen wurden Funde gemacht, die auf rituelle Zusammenhänge hinweisen (z.B. Trommeln und Rasseln in der Lüneburger Heide, die einige tausend Jahre alt sind). Sicherlich haben unsere Menschenahnen der Frühzeit Klang und Rhythmus ähnlich eingesetzt, wie es heute noch in indigenen Gemeinschaften geschieht: zur Veränderung der → Wahrnehmung (→ Bewusstseinszustände), um Kontakt zu den nichtsichtbaren geistigen Kräften herzustellen und sich mit diesen zu verbinden oder mit ihrer Hilfe zum Überleben der Gemeinschaft beizutragen. Rhythmus, Klang und Stimme sind immer noch die mächtigsten „Werkzeuge“ der Schamanen (→ Icaros), um die Wirklichkeit sehen zu können, zwischen den Bewusstseinswelten zu reisen und zu navigieren und heilende Prozesse zu bewirken.
Unser Begriff der Kunst bildete sich erst ab dem 16. Jh. aus. In den Gemeinschaften der Frühzeit war es vermutlich ähnlich wie bei den heute noch existierenden indigenen Völkern, die kein Wort für Kunst kennen. Der schöpferische Ausdruck ist bei ihnen der sichtbare oder hörbare Ausdruck einer Erfahrung im Umgang mit den geistigen Kräften und Welten, manchmal auch ein Konzentrationspunkt zum Durchschreiten der „Pforten der Wahrnehmung“. Der künstlerische Ausdruck ist so ein Erinnern und Bewahren des Wissens und der Kenntnisse der Experten (so ist „Kunst“ auch von dem Verb „können“ abgeleitet).
Alle künstlerischen Gestaltungen haben ursprünglich den Hintergrund, die Gemeinschaft der Menschen enger miteinander zu verbinden, Informationen für spätere Generationen zu bewahren und eine Heilung des Individuums und der Gemeinschaft zu bewirken. Von außen gesehen kann man Kunstformen, die „den verborgenen Sinn der Dinge offenbaren“ (Aristoteles), also die Wirklichkeit hinter der sichtbaren Wirklichkeit, hilfsweise mit dem Terminus „objektive Kunst“ bezeichnen. Dieser Begriff wurde von G.I. → Gurdjieff geprägt:

„Der Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Kunst ist der, dass bei objektiver Kunst der Künstler wirklich ’schafft‘, das heißt, er gestaltet das, was er beabsichtigt, er bringt in sein Werk die Ideen und Gefühle, die er darin ausdrücken will. Und die Wirkung dieses Werkes auf die Menschen ist eine ganz bestimmte… Weder in der Schöpfung objektiver Kunst noch in den Eindrücken, die sie hervorruft, kann es etwas Zufälliges geben. Bei der subjektiven Kunst ist alles zufällig.“ (G.I. Gurdjieff in: P. D. Ouspensky 1966, 436)
Der Begriff „objektiv“ hat einen absoluten Anspruch. Besser wäre ein Wort, das etwas jenseits von „objektiv“ und „subjektiv“ ausdrückt, worum es eigentlich auch geht. Aber mangels einer anderen, treffenderen Umschreibung kann dieser Begriff ein nützlicher Arbeitsbegriff sein, der darauf hinweist, dass es so etwas wie eine kreative Manifestation von → Wahrnehmungen und → Visionen geben kann, welche die persönliche Befindlichkeit von Menschen überschreiten. „Objektive Kunst“ gründet in diesem Sinne auf „nichtpersönlichen“ Wahrnehmungen in einem erhöhten → Bewusstseinszustand, auf einer Vision der Muster und Strukturen jenseits der sichtbaren Welt, aber auch jenseits des persönlich Unbewussten.
Der Tiefenpsychologe C.G. Jung (1875-1961) versuchte diese Idee mit den Begriffen der „Archetypen“ zu umschreiben. Doch auch das ist ein „Hilfsbegriff“ für die unendlichen Welten hinter der mit Augen und Ohren wahrnehmbaren Welt, die mehr beinhalten als Urbilder.
Ein „objektives“ Kunstwerk kann nur durch Wissen, Intuition und bewusste Gefühle (also jenseits von Zeitgeschmack und persönlichen Emotionen) entstehen. Sonst ist die Voraussetzung der Objektivität nicht gegeben. Die Gestaltung von Kunstwerken unterschiedlicher Ausdrucksformen wie Malerei, Bildhauerei, Musik usw. braucht natürlich dann den Menschen als offenen, unvoreingenommenen Empfänger. Alle Bilder, auch die so erschaffenen, können nur über die Aufmerksamkeit des Betrachters wirken, und diese Wirkung wiederum findet ihren Ausdruck in den Gefühlen, indem nämlich der Mensch davon innerseelisch berührt wird. Deshalb ist es oft unmöglich, die Qualität der Objektivität in einem Kunstwerk zu erkennen, wenn jemand nicht über das Wissen um diese Qualität verfügt.
Über die Jahrtausende, bereits lange vor der christl. Zeitrechnung, gab es immer wieder Bestrebungen, diese Einblicke in andere Wirklichkeiten in Kunst auszudrücken. In vielen Kulturen auf der Erde können wir dank der archäologische Befunde solche Kunstwerke bewundern, seien es Statuen oder Skulpturen, geometrische Formen oder Bauwerke. Ein Beispiel dafür sind die Bildhauerzeugnisse der mittelamerikanischen Olmeken (ca. 800 bis 2000 v.u.Z., → Megalithanlagen), die erstaunlich modern anmuten und heute noch eine große Wirkung auf den Betrachter ausüben. Viele Kunstwerke der frühen Künstler auf allen Kontinenten tun dies, weil sie viel direkter die → Wahrnehmung der Künstler umsetzen, als es heute (bedingt durch vielfältige gesellschaftliche Einflüsse) möglich ist.
In Europa finden wir die ursprüngliche „objektive Kunst“ in manchen antiken Skulpturen, z.B. Darstellungen der Athene. Darin ist das Gesetz der Sieben, das → Oktavengesetz, klar zu erkennen. In einigen griech. Bauwerken wie dem Poseidon-Tempel in Paestum gibt es eindeutige harmonikale Verhältnisse. Deshalb wurde in Goethes Freundeskreis der Satz geprägt: „Architektur ist gefrorene Musik“ (→ Architektur). Im 79 n.u.Z. vom Vesuv verschütteten Pompeji ist die so genannte Villa dei Misteri interessant: Ein Raum voll sehr gut erhaltener Fresken, die auf „objektivem“ Wissen basieren und Zeugnis ablegen von einer Kosmologie, welche auf dem Gesetz der Sieben und der Dreiheit basiert.
Aufbauend auf diesem Wissen (insbesondere aus der griech. Baukunst) wurden im 11. und 12. Jh. viele Kathedralen gebaut, die in Struktur und Bauweise zur objektiven Kunst gezählt werden können (→ Chartres). Während der Renaissance entstanden einige große objektive Gemälde, wie z.B. das „Letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci oder der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, die in Wirkung und Botschaft bis heute unvermindert eindringlich die Qualitäten einer objektiven Kunst vermitteln. Gemeinsamer Nenner dieser Kunstwerke ist nicht nur die unmittelbare Faszination, die sie auf den Betrachter ausüben, sondern auch die mathematischen geometrischen Strukturen, auf denen die Bilder basieren.
In da Vincis „Abendmahl“ etwa finden aufmerksame Beobachter das → Oktavengesetz, und – wenn man die Bedeutung des Enneagramms als Kosmogramm kennt – auch das → Enneagramm. Im ersten Triptychon (Bild des hl. Sebastian) von Grünewalds Altar entdeckte Agnes Hidveghy 2002 die Winkelverhältnisse des → Enneagramms und auf dem zentralen Hauptbild das Enneagramm als präzise konstruierte geometrische Figur.
Das aufmerksame Studium der Bilder allein genügt jedoch nicht. Man muss wissen, was man sucht, und die „objektiv“ gültigen Informationen (in diesem Fall das Enneagramm) kennen, sonst wird man nicht fündig werden. Beim Isenheimer Altar wird die Wirkung durch die Maße der Tafeln, die Anordnung der Bilder, die genauen Winkel und geometrischen Verhältnisse erreicht – dank mathematischer Genauigkeit. Solche Bilder wirken gerade wegen dieser objektiv mathematischen und geometrischen Maße. Voller Überraschungen steckt auch die griech.-orthodoxe Ikonenmalerei als eine „objektive“ Kunstform im Kontext einer religiösen Weltanschauung (→ Ikonen).
Durch die Entwicklung der heutigen Mathematik und Physik, die ja weit über manche alten Erkenntnisse einer kosmischen Symmetrie hinausgehen, ist sicherlich eine andere Form des Kunstausdrucks notwendig geworden, die dem Menschen einen direkten Kontakt mit einer Bewusstseinswelt hinter der Dimension der sichtbaren Welt ermöglicht. Der Ausdruck der Einsichten und Erkenntnisse wandelt sich und damit auch die Form des Kunstschaffens (→ Kunst und Kreativität). Ein Beispiel dafür die so genannte psychedelische Kunst (→ psychedelische Erfahrung), heute auch als „visionäre Kunst“ bezeichnet. Psychedelische Kunst ist spirituell und mystisch. Das bedeutet, dass Muster und Strukturen wahrnehmbar gemacht werden, die ein Mensch sonst nur in einem veränderten Bewusstseinszustand sehen kann. Diese Kunst tendiert zum Organischen, Molekularen, Zellularen und bringt eine Landschaft von lebendigen Geweben und Verwebungen hervor. Auf diese Weise wird ein inneres Erleben sichtbar gemacht, das über den Symbolismus alter Kunstwerke hinausgeht. Diese Art der Kunst will den Betrachter an die Möglichkeit tiefer, → mystischer Erfahrung heranführen und ihn in Resonanz mit dem Erlebten bringen.

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